Jacken an, lose Blätter mit dem Etui sichern, Fenster auf, Sanduhr umdrehen oder Eieruhr einstellen … Inzwischen ist das Stoßlüften nach 20 Minuten Unterricht Routine. Keine geliebte, aber eine akzeptierte. Die „Handreichung zum richtigen Lüften in Schulen“ des Umweltbundesamts (UBA) [1] für die Kultusministerkonferenz ist fester Bestandteil des Unterrichts geworden. Und es gibt Lerneffekte: Die Schüler sind viel aufmerksamer, der Krankenstand für die Jahreszeit ungewöhnlich niedrig. Letzteres wird auch mit Abstandsregeln zu tun haben, die Aussagen sind aber auch aus Grundschulen zu hören, wo bisher in vielen Ländern in den Unterrichtsräumen keine Maskenpflicht und Abstandsregeln gelten.
Die UBA-Handreichung soll in der aktuellen Situation das Risiko verringern, sich mit dem SARS-CoV-2-Virus über luftgetragene Aerosole zu infizieren – falls sich jemand im Klassenzimmer befindet, dessen Infektion noch nicht erkannt ist: Lüften ist die einfachste und wirksamste Maßnahme, um potenziell virushaltige Aerosole aus der Luft in Klassenzimmern zu entfernen. Lüften macht allerdings das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (MNB) oder vergleichbarer Maßnahmen (Spuckschutz) zur Minimierung des direkten Infektionsrisikos (Tröpfcheninfektion) und die Händehygiene nicht entbehrlich. Ebenso ist das Tragen einer MNB kein Ersatz für das Lüften in Unterrichtsräumen.
Alte Erkenntnisse neu vermittelt
Die Fensterlüftungsregeln für Unterrichtsräume sind jedoch nicht neu. Neu ist nur die Konkretisierung, nach 20 Minuten im Winter für 3 bis 5 Minuten eine Stoßlüftung durchzuführen. Schon vorher galten als Quasi-Standard die Empfehlungen des Arbeitskreises Lüftung am UBA über die Anforderungen an Lüftungskonzeptionen in Gebäuden, Teil 1 Bildungseinrichtungen [2]. Für Unterrichtsräume ohne mechanische Lüftungsanlagen, die mindestens eine Grundlüftung gewährleisten, enthält die Empfehlung ein „Notkonzept“:
„Bei Schulgebäuden im Bestand, die noch nicht über lüftungstechnische Einrichtungen [gemeint sind mechanische Lüftungsanlagen] verfügen, muss unbedingt regelmäßig vor und während des Unterrichts gelüftet werden. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die folgenden Empfehlungen keine Alternative zur zukünftigen Verwendung mechanischer Lüftungen in Kombination mit manuellem Lüften über Fenster (Hybrid-Lüftung) darstellen. Es handelt sich um Maßnahmen, die im Regelfall nicht dazu führen, dass die geforderten CO2-Werte (1000 ppm im Unterrichtsstundenmittel) eingehalten werden, jedoch im Rahmen der Lüftungsmöglichkeiten der meisten Bestandsbauten die Innenraumluftqualität in Unterrichtsgebäuden so gut wie gegenwärtig möglich halten sollen.“
Und weiter: „Die Stoßlüftung soll erfolgen: Vor Unterrichtsbeginn sollen alle Fenster in einem Klassenraum 5 bis 10 Minuten so weit wie möglich geöffnet werden. […] In jeder kurzen Pause sollen alle Fenster im Klassenraum ebenfalls so weit wie möglich für die gesamte Dauer der Unterrichtspause weit geöffnet werden. […] In jeder langen Pause (Hofpause) soll die Lüftungsdauer vorzugsweise ebenfalls über die ganze Pause erfolgen. Im Winter, bei sehr niedrigen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, reicht es, die Fenster in der langen Pause ca. 5 bis 10 Minuten geöffnet zu halten. […]
Während des Unterrichts muss bei üblicher Raumbelegung zusätzlich gelüftet werden. Eine generelle Vorgabe gibt es hier nicht. Eine CO2-Ampel […] kann helfen, die notwendigen Lüftungsintervalle während des Unterrichts anzuzeigen. Eine zusätzliche ‚Kipplüftung‘ kann während des Unterrichtes den Luftaustausch unterstützen, sofern keine unzumutbaren Bedingungen hinsichtlich Temperatur und Zugerscheinungen sowie durch Lärm oder Einwirkung von Immissionen von außen entstehen. […]“
Bisher wurde zu wenig gelüftet
Der Fachverband Gebäude-Klima (FGK) geht davon aus, dass in Deutschland in weniger als 10 % der Schulen Klassenzimmer mit einer mechanischen Lüftungsanlage ausgestattet sind, eine automatisierte Fensterlüftung dürfte noch erheblich weniger verbreitet sein. Das Aufheulen, das mit der UBA-Handreichung durch Deutschland ging, belegt also in erster Linie, dass die schon zuvor geltenden Empfehlungen weitgehend ignoriert worden sind und vor dem Beginn der Coronavirus-Pandemie Lüftungsampeln oder CO2-Messgeräte in Schulen kaum im Einsatz und vermutlich auch gar nicht verfügbar waren.
Die Autoren der UBA-Empfehlungen [2] waren sich der Problematik bewusst: „In Abhängigkeit von Klassenstärke […], Raumgröße […], Witterung sowie Gestaltung der Fensteröffnungen werden zusätzlich zur Pausenlüftung mehrere Lüftungsvorgänge innerhalb einer Unterrichtsstunde nötig sein. Erfahrungsgemäß ist dies in der Praxis schwer umsetzbar, weil die Akzeptanz dafür fehlt oder weil man es schlichtweg vergisst. Diese Aufgabe muss daher in gemeinsamer Verantwortung und mit klar geregelter Zuständigkeit vom Lehrkörper mit Hilfe der Schülerinnen und Schüler übernommen werden.“
Man darf also schon aus den Reaktionen von Lehrern auf die 20-5-Minuten-Lüftungsregel schließen, dass in den letzten Jahren ein gesundheitlich-hygienisch erforderlicher Luftwechsel mindestens in der Heizperiode in Unterrichtsräumen ohne mechanische Lüftungsanlage regelmäßig nicht gewährleistet war. Und alle haben weggesehen. Nur wenige Schulen werden wohl für jeden einzelnen Raum – unabhängig von der Lüftungsart (mechanische Lüftung oder über Fenster) – Lüftungskonzepte für den Sommer- und den Winterbetrieb getrennt vorlegen können, die auf 2019 oder früher datiert sind. Genau dies ist eine der Kernbotschaften aus der UBA-Empfehlung (siehe unten).
Blick nach vorne
So weit die aktuelle Situation. Was kann man daraus lernen? Hätten sich die Verantwortlichen seit dem Aussprechen der UBA-Empfehlungen an diese und an die Arbeitsschutzbestimmungen gehalten, wäre die 20-5-Minuten-Lüftungsregel nur eine kleine Erweiterung des bisherigen Lüftungsverhaltens und keinen Protest wert gewesen.
Viel wahrscheinlicher ist aber, dass bei der Anwendung der oben zitierten Fensterlüftungsregeln schon vor Jahren erkannt worden ist, dass sie nicht praktikabel und auch nicht überall umzusetzen sind. Jeder Involvierte hätte schnell diesen Leitsatz aus der UBA-Empfehlung sinngemäß formulieren können:
„Fensterlüftung allein ist bei den gegenwärtigen Randbedingungen hinsichtlich der Personenbelegung und Raumgröße in Bildungseinrichtungen nicht geeignet, während der Nutzungszeiten gute Innenraumluftqualitäten sowie ein gutes und behagliches Innenraumklima zu gewährleisten.“
Die zitierten UBA-Empfehlungen geben zwar den Stand November 2017 wieder, aber schon 2008 mahnte der ebenfalls vom UBA veröffentlichte „Leitfaden für die Innenraumhygiene in Schulgebäuden“ [3] die Schulträger und die Verantwortlichen in Schulaufsichtsbehörden und Bauämtern:
„Wir stehen heute [2008] zweifelsohne vor einem gewissen Paradigmenwechsel im Denken und im Handeln. Die [...] Situation in vielen Schulen zeigt, dass allein mit Aufforderungen zum regelmäßigen und intensiven Lüften das CO2-Problem mancherorts nicht mehr in den Griff zu bekommen ist. Lüftungstechnische Maßnahmen werden dann unerlässlich, um eine nutzerunabhängige und dauerhafte Luftgüte mit geringer CO2-Konzentration zu erreichen.“
2021 ist wohl die beste Gelegenheit, die „nutzerunabhängige und dauerhafte Luftgüte mit geringer CO2-Konzentration“ in jedem Unterrichtsraum einzufordern. Denn eine Beibehaltung der 20-5-Minuten-Lüftungsregeln lange über die Coronavirus-Pandemie hinaus ist kaum vermittelbar und ein Rückfall auf unzureichende Luftgüte vorprogrammiert.
Was erforderlich ist
Technisch-funktional sind die Erfordernisse in den 8 Kernbotschaften der UBA-Empfehlung klar umrissen:
Umsonst ist das freilich nicht zu realisieren. Das erforderliche Investitionsvolumen lässt sich grob abschätzen: In Deutschland gibt es rund 11 Millionen Schüler. Mit der FGK-Abschätzung kann man davon ausgehen, dass 1 Million Schüler bereits in maschinell belüfteten Klassenräumen unterrichtet werden. Für die verbleibenden 10 Millionen wird eine Klassenstärke von 25 Schülern angenommen, daraus ergeben sich 400 000 Unterrichtsräume, Fachräume bleiben unberücksichtigt.
Die Installation eines dezentralen Schullüftungsgeräts kostet nach verschiedenen Quellen zwischen 8000 und 15 000 Euro. Kalkuliert man auf dieser Basis mit 12 500 Euro pro Klassenzimmer als Referenzfall, ergibt sich ein Investitionsbedarf von 5 Milliarden Euro.
Vergleicht man die Stromkosten eines Schullüftungsgeräts mit Wärmerückgewinnung mit einer gleichwertigen Fensterlüftung, liegen sie auf gleichem Niveau wie die Kosten zum Ausgleich des Lüftungswärmeverlusts. Tatsächlich ist hier aber eine Einzelfallbetrachtung erforderlich, da die Energiebilanz von vielen Parametern einschließlich der tatsächlichen Nutzung, der Beleuchtung und der Dichtheit der Gebäudehülle abhängig ist. Die Kosten für die Gerätewartung können sich im Normalfall nicht aus eingesparten Kosten finanzieren und sind zusätzlich zu berücksichtigen.
Ausblick
Dass in nur wenigen Schulen die Unterrichtsräume maschinell belüftet werden, ist in erster Linie eine Geldfrage. Um das zu ändern, ist ein Marshallplan für die Schullüftung erforderlich. Denn bei der Bildung zu sparen, zahlt sich nicht aus. Legt man die grob ermittelten Kosten von 5 Milliarden Euro auf 10 Millionen Schüler um, sind es lediglich 500 Euro pro aktuellem Schüler und bei angenommenen 12 Schuljahren zuzüglich Wartungskosten etwa 50 Euro pro Jahr und Schüler.
Von einem Marshallplan für die Schullüftung würde nicht nur das Bildungssystem profitieren, Sozialkassen und Gesundheitssystem würden entlastet, der Unterrichtsausfall würde verringert und es würden Arbeitsplätze bei Planung, Installation, Geräte- und Zulieferindustrie gesichert.
Man muss nicht lange überlegen, die Gewährleistung einer hohen Luftqualität wird sich auszahlen!
Literatur
[1] Lüften in Schulen. Empfehlungen des Umweltbundesamtes zu Luftaustausch und effizientem Lüften zur Reduzierung des Infektionsrisikos durch virushaltige Aerosole in Schulen. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, 15. Oktober 2020
[2] Empfehlungen des Arbeitskreises Lüftung (AK Lüftung) am Umweltbundesamt über die Anforderungen an Lüftungskonzeptionen in Gebäuden, Teil 1 Bildungseinrichtungen. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, November 2017
[3] Leitfaden für die Innenraumhygiene in Schulgebäuden. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, 2008
Hintergrund
Zum Kostenvergleich
Der Report „Bildung und Forschung in Zahlen 2020“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung weist für das Jahr 2016 als Mittelwert für alle öffentlichen Schulen 7100 Euro pro Schüler an Personalausgaben für Schulen und Schulverwaltung einschließlich unterstellter Sozialbeiträge für verbeamtete Lehrkräfte sowie Beihilfeaufwendungen, laufenden Sachaufwand und Investitionsausgaben aus.
Der Anteil der Schulausgaben für Personal belief sich 2016 nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Bildungsfinanzbericht 2019) pro Schüler auf 5800 Euro, für den laufenden Sachaufwand wurden 900 Euro und für die Investitionsausgaben 400 Euro aufgewendet.
Im Jahr 2018 betrugen die Ausgaben der öffentlichen Haushalte für die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen insgesamt 69,2 Milliarden Euro. Davon stellten die Länder 56,3 Milliarden und die Gemeinden 12,9 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Ausgaben des Bundes betrugen weniger als 0,1 Milliarden Euro.