SBZ: Herr Mertz, die Coronapandemie hat dem Thema Lüftung in Deutschland große Aufmerksamkeit beschert. Können Sie die Entwicklung noch einmal kurz zusammenfassen?
Günther Mertz: Als die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen gezeigt haben, dass sich das Infektionsrisiko über die Reduzierung der Aerosollast im Raum verringern lässt, wurde die Lüftungstechnik auf einmal ein Teil der Lösung der aktuellen Pandemie-Problematik. Die bekannten AHA-Regeln wurden um das „+L“ ergänzt.
Nur wusste draußen niemand so genau, was das jetzt eigentlich bedeutet. In der Folge hatten wir als Verband auf einmal zahlreiche Anfragen für Hörfunk- und Fernsehinterviews, was wir in dieser Form noch nicht kannten und worauf wir sehr schnell reagieren mussten.
Die Positionierung fiel uns aber auch nicht furchtbar schwer. Schließlich haben wir schon immer eine Lüftung gefordert, die eine hohe Indoor Air Quality garantiert – also auch geringe CO2-Werte beinhaltet und einen hohen Luftaustausch mit mindestens 45 m³/h pro Person realisiert. Dies haben wir aufgegriffen und unsere Informationsarbeit in Zusammenarbeit mit den beiden wichtigen wissenschaftlichen Einrichtungen, der RWTH Aachen und dem Hermann-Rietschel-Institut in Berlin, vorangetrieben.
SBZ: Ein wesentlicher Aspekt war dabei auch das Thema Schullüftung, das bis heute kontrovers diskutiert wird. Vor allem, weil sich hier unterm Strich wenig getan hat.
Mertz: Ja, das ist ein Trauerspiel. Wir kennen alle die Bilder aus dem Winter, wo die Schülerinnen und Schüler in einem Klassenzimmer sitzen mit Mütze und Schal und Handschuhen, weil eben gelüftet werden musste. Aber bei minus 20 °C ist das nicht so ganz angenehm. Da hat sich das Umweltbundesamt mit seiner Empfehlung zur Fensterlüftung nicht so glücklich positioniert.
Dazu kam diese wirklich skurrile Debatte um den Einsatz von Luftreinigern in Schulen. Hier war die Nachfrage sehr groß und deshalb haben sich einige Bundesländer dann durchgerungen, Förderprogramme aufzulegen. Dabei galt aber immer der Zusatz, dass die Luftreiniger nur in Klassenräumen gefördert werden, die schlecht belüftet sind. Aber Klassenräume, die schlecht belüftet sind, dürfen überhaupt nicht für den Unterricht genutzt werden – egal, ob jetzt mit oder ohne Pandemie.
In einer Stadt gab es den Fall, dass die Eltern sich bereiterklärt haben, die Kosten für die Luftreiniger zu übernehmen. Die lokale Schulbehörde hat nach langem Hin und Her zugestimmt. Aber nur unter der Bedingung, dass die Eltern dann auch für die Installation, den Betrieb und die Instandhaltung zuständig sind. Das konnten und wollten die natürlich nicht leisten. Und in anderen Fällen sollten Billiggeräte für unter 400 Euro eingesetzt werden, die zur Reduzierung des Infektionsrisikos in einem Klassenraum so gut wie nichts beitragen.
Nachdem das Thema jetzt so hochgekocht ist, gibt es hoffentlich ein Umdenken bei den Behörden. Wir haben ja schon lange vor der Pandemie sehr gut besuchte Schullüftungskongresse veranstaltet, bei denen wir auf die Relevanz der Innenraumluftqualität hingewiesen haben. Trotzdem sind immer noch weniger als 10 % der Schulen mechanisch belüftet und auch der Sommer im letzten Jahr wurde nicht genutzt, um auf die Pandemie zu reagieren, obwohl reichlich Zeit gewesen wäre.
SBZ: Und wie führen Sie das Thema weiter?
Mertz: Dafür haben wir gerade die Kampagne „Lebensmittel Luft“ gestartet und dabei auch zahlreiche Partner miteingebunden. Die Kampagne hat zwei Ziele: Zunächst soll darüber informiert werden, welche Möglichkeiten die Lüftungstechnik zur Reduzierung des Infektionsrisikos in Innenräumen bietet. Dabei setzen wir stark auf Anwendungsbeispiele, wie etwa Schulen, Hotels, Theater.
Mittel- und langfristig halte ich aber das zweite Ziel noch für viel wichtiger. Hier geht es darum, die jetzt vorhandene Sensibilität für die Innenraumluftqualität auch in die hoffentlich bald kommende Post-Corona-Zeit zu transportieren. Das darf nicht einfach wieder vom Radar rutschen, wenn alle geimpft sind.
Hier ist die gesamte Branche gut beraten, nicht nur kurzfristig Luftreiniger zu verkaufen, sondern das Thema langfristig zu positionieren. Wobei unsere Mitglieder hier sehr seriös argumentieren und ganz klar sagen, dass ein Luftreiniger kein Ersatz für die notwendige Lüftung ist.
SBZ: Wo liegen denn die Hauptbereiche, in denen die Lüftungstechnik jetzt einen Unterschied machen kann?
Mertz: Neben den Schulgebäuden stehen jetzt vor allem große Versammlungsstätten im Fokus. Gerade in Veranstaltungshallen oder Einkaufszentren können wir mit Lüftungsmaßnahmen dafür sorgen, dass sich die Menschen dort unter Einhaltung der AHA+L-Regeln aufhalten können. Wenn sie dort eine Lüftung nach DIN EN 16 798-1 realisieren und die Leute Masken tragen, sind mit Sicherheit keine Infektionsherde zu erwarten. Das würde auch eine Öffnungsperspektive für den Einzelhandel bedeuten.
Aber auch Büros, Restaurants und der Einzelhandel in den Innenstädten sind wichtige Ansatzpunkte. Hier zeigen wir mit der Kampagne „Lebensmittel Luft“ ebenfalls Lösungen auf. Viele Betreiber nehmen das gerne an und haben auch in entsprechende Lüftungstechnik investiert. Die Krux ist: Sie haben nichts davon und müssen ihre Betriebe trotzdem geschlossen halten. Gerade bei den Gaststronomen herrscht große Frustration.
SBZ: Aber hier wäre doch die Politik gefordert, oder nicht?
Mertz: Genau. Wir bräuchten Öffnungsklauseln, die sich an den lüftungstechnischen Voraussetzungen in den Räumlichkeiten orientieren. Das ist wie mit der Feinstaubbelastung in den Städten, wo schadstoffarme Autos nicht von Fahrverboten betroffen sind. Analog dazu ließen sich auch entsprechende Regelungen für die Pandemie aufstellen.
SBZ: Und wie ließe sich das umsetzen?
Mertz: Eine Grundlage dafür bieten wir mit unserem Status-Report 52. Dort schlagen wir ein vereinfachtes Bewertungsverfahren für Lüftungsmaßnahmen auf Basis der DIN EN 16 798-1 vor. So kann etwa ein Gastronom zeigen, dass er das +L so erfüllt, dass tatsächlich eine Reduzierung des Infektionsrisikos in seinen Räumen erreicht wird. Und damit wären auch zusätzliche Lockerungen möglich.
Die Ideallösung sind zentrale Anlagen mit 100 % Außenluftanteil und einem Volumenstrom von ca. 40 bis 60 m³/h pro Person. Wo es nicht möglich ist, das schnell umzusetzen, können auch dezentrale Lösungen in Verbindung mit Luftreinigern für Verbesserung der Raumluftqualität und eine Reduktion des Infektionsrisikos sorgen. Auch hier ist dafür zu sorgen, dass pro Person ca. 20 m³/h Außenluft zur Verfügung stehen. Wichtig ist, dass etwas passiert und dass wir für die +L-Maßnahmen klare Handlungsvorgaben haben.
Würde das so festgeschrieben, müssten wir uns um die Umsetzung keine Sorgen mehr machen. Jedes Restaurant und jedes Hotel würde sofort entsprechende Lüftungsmaßnahmen in Angriff nehmen. Leider fehlt dieser politische Hebel zumindest im Moment noch.
SBZ: Falls dieser Schritt seitens der Politik nicht kommt, dann ließe sich doch auch auf Basis des Status-Reports 52 eine Art freiwilliges Label etablieren. Wie sehen Sie das?
Mertz: Das wäre auch unser Ziel und würde auch über die Pandemie hinauswirken. Unabhängig von der Corona-Situation könnte damit jeder Betreiber im Schaufenster oder am Eingang deutlich zeigen: Bei mir herrscht immer gute Luft und die Ansteckungsgefahr, etwa bei einer normalen Grippewelle, ist deutlich geringer als anderswo. Damit ließe sich das Thema Innenraumluftqualität auch über die Coronazeit hinaustragen.
SBZ: Das sind viele Initiativen, die jeder Fachmann sofort unterstützen würde. Trotzdem dringt die Lüftungsbranche mit ihren Positionen anscheinend nicht in die Politik und die Öffentlichkeit durch. Woran liegt das?
Mertz: Also, was die Schullüftung angeht, haben wir es hier mit Verzweiflungstaten der Schulen, Lehrer und Eltern zu tun. Sie setzen auf vermeintliche Alternativen wie Billig-Luftreiniger oder die Regenschirmlüftung aus dem Baumarkt, weil ihnen keine andere Lösung von den Behörden angeboten wird.
Der FGK leistet hier mit seinen Partnern auf allen Ebenen Überzeugungsarbeit. Aber wir stoßen bei den Behörden auf taube Ohren. Selbst bei einem so sensiblen Thema wie der Gesundheit von Schülerinnen und Schülern scheint es irgendwo politische Blockaden zu geben, an denen wir nicht vorbeikommen.
Ein schönes Beispiel ist auch das 500-Millionen-Förderprogramm zur Um- und Aufrüstung von RLT-Anlagen. Das kann man getrost als grandiosen Flop bezeichnen. Dort waren wir ursprünglich von Anfang an involviert und auf einem guten Weg. Dann wanderte die Zuständigkeit vom Innen- zum Wirtschaftsministerium. Auf einmal standen nur noch bestehende Anlagen im Fokus, was wir nicht mehr unterstützen konnten. Denn damit sind 90 % der Schulen ausgeschlossen.
Heute kann man sagen: Die 500 Millionen Euro wären mit einem Förderprogramm für dezentrale Lüftungsgeräte deutlich besser investiert gewesen. Da haben Sie keine großen Genehmigungsprozesse und die Geräte sind innerhalb von einem Tag installiert – bei überschaubaren Investitionskosten. Grundsätzlich fehlen die richtigen politischen Leitplanken. Deshalb fordern wir ja auch ein eigenes Förderprogramm für die Schullüftung.
SBZ: Was macht Ihnen angesichts der bisherigen Erfahrungen Hoffnung, dass Sie damit erfolgreicher sein werden?
Mertz: Wir bleiben da natürlich hartnäckig. Wir werden unsere Vorschläge mit konkreten Praxisbeispielen untermauern, wie die Umsetzung solcher Förderprogramme im Einzelfall aussehen kann. Und sobald es die Pandemiebedingungen wieder zulassen, werden wir im Rahmen von parlamentarischen Veranstaltungen an die Politik herantreten. Wir sind jetzt schon mit Bundestagsabgeordneten im Gespräch und werden die Themen Innenraumluftqualität und Schullüftung auch über den Gesundheitsausschuss vorantreiben. Denn dort gehören sie eigentlich hin.
SBZ: Und wie sollte ein Förderprogramm für die Schullüftung aus Ihrer Sicht konkret aussehen?
Mertz: Die Förderung könnte in drei Stufen erfolgen. Stufe eins würde dort, wo es sinnvoll ist, mit Luftreinigungsgeräten in Kombination mit Fensterlüftung arbeiten. Die zweite Stufe wäre die Installation von dezentralen Lösungen mit Außenluftanschluss und die dritte wäre die Ausstattung einer mechanischen Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung. Dann hätten wir mit den Stufen eins und zwei Lösungen für den Bestand und die Stufe drei vornehmlich für den Neubau.
SBZ: Die Coronapandemie hat neue Anforderungen für die Auslegung und den Betrieb von Lüftungsanlagen mit sich gebracht. Jetzt ist die aktuelle Ausnahmesituation noch nicht zu Ende und wir wissen nicht, ob ein ähnliches Ereignis zukünftig noch mal auf uns zukommt. Daher abschließend noch die Frage: Gibt es hier auch einen entsprechenden Anpassungsbedarf, was die einschlägigen Regelwerke angeht?
Mertz: Der FGK, der Bundesindustrieverband Technische Gebäudeausrüstung (BTGA) und der RLT-Herstellerverband haben ja schon sehr früh während der ersten Welle eine gemeinsame Stellungnahme zum Betrieb raumlufttechnischer Anlagen herausgegeben. Dieses wirklich viel beachtete Papier liegt mittlerweile in der dritten Version vor.
Es muss aber natürlich nicht nur im Betrieb angesetzt werden, sondern schon vorher bei der Planung der Anlage. Deshalb hat der BTGA zusätzlich den Praxisleitfaden „Planung und Betrieb von RLT-Anlagen bei erhöhten Infektionsschutzanforderungen“ erstellt, der genau die aus der Pandemie resultierenden Anforderungen berücksichtigt. Das beginnt beim Außenluftanteil, geht über die Umluftdebatte bis hin zur Filtereinrichtung. All diese Dinge müssen beachtet werden und das sind wir aktuell gut aufgestellt.
Gleichzeitig wird uns die Coronapandemie voraussichtlich noch langfristig ähnlich wie eine Grippe begleiten. Selbst wenn nicht, können wir eine weitere Pandemie nicht ausschließen. Deshalb müssen wir vorbereitet sein und im Planungsprozess entsprechend umdenken. Der FGK setzt sich dafür ein, dass zukünftig so geplant wird, dass wir auch in solchen oder ähnlichen Extremfällen Lösungen für eine gute und gesunde Raumluft anbieten können.
SBZ: Herr Mertz, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Günther Mertz ist Geschäftsführer des Fachverbands Gebäude-Klima e. V. (FGK) in Bietigheim-Bissingen, www.fgk.de